Facepalm - By: Tim Green - https://www.flickr.com/photos/atoach/7839341408 - CC BY 2.0

Notre-Dame und die Klug­scheißer von heute: Ein Mil­lenial belehrt das Mittelalter

Von Roger Letsch — In Artikeln wie diesem von Anne Kunz in der „Welt“ zeigt sich exem­pla­risch, warum der Jour­na­lismus in diesem Land derart auf den Hund gekommen ist. Ober­leh­rerhaft und atemlos rennen Kunz und Genossen mit ihren klein­geis­tigen Geo­drei­ecken durch die Geschichte um Maß zu nehmen. Was hätte sich die Menschheit doch alles sparen können, wäre der Athe­ismus vor dem Mono­the­ismus erfunden worden, die 2‑Zimmer-Küche-Bad-Wohnung in Hamburg-Altona vor dem ver­schwen­de­ri­schem Barock, und wie schön wäre es doch gewesen, wenn der Tesla schon gefahren wäre, bevor jemand auf die Idee kam, in Texas nach Öl zu bohren. Mit dem Halb­bil­dungs­dünkel glu­ten­freier Mil­le­nials betrachtet, bricht jede Errun­gen­schaft ver­gan­gener Epochen im LED-Licht der Neuzeit in sich zusammen: zu teuer, zwecklos, nicht kli­ma­neutral, man­gelnde soziale Gerech­tigkeit, falsch gegendert. Pyra­miden fallen durch, weil sie auch durch Skla­ven­arbeit errichtet wurden, die Kanal­bauten von Suez oder Panama sind eine einzige Umwelt­zer­störung, der Die­sel­motor wird vom Sockel der indus­tri­ellen Revo­lution geholt und als Fein­staub­schleuder ver­teufelt. Wie viele Kin­der­gar­ten­plätze ent­standen wohl nicht, weil die Ame­ri­kaner unbe­dingt zum Mond wollten? Wenn sich Kunz prüfend und rügend rück­wärts durch die Zeit schreibt, erscheint die Gegenwart allein als Ergebnis end­loser Fehl­ent­schei­dungen. Der Bau von Kathe­dralen wie Notre-Dame in Paris zum Bei­spiel. Kunz:
Die Kathe­drale von Notre-Dame wird weltweit bewundert. Doch sie stammt aus einer düs­teren Zeit. Der fran­zö­sische Kir­chenbau der Zeit war grotesk teuer – und könnte das Mit­tel­alter um Jahr­hun­derte ver­längert haben. – Der Ver­schwen­dungswahn der Kirche kostete nicht nur sehr viel Geld: Tau­sende Arbeits­kräfte waren im Einsatz, um die prunk­vollen Bauten zu errichten.“

Hätte, hätte, Lichterkette

Was bleibt vom Vorwurf der Ver­schwendung eigentlich übrig, stellt man ihm die tech­no­lo­gi­schen Ent­wick­lungen gegenüber, die der euro­pa­weite Bau gigan­ti­scher Kathe­dralen brachte? Stre­bewerk, Kreuz­ge­wölbe, der Kran, Gerüstbau, Malerei, Glas­kunst… es waren die Sakral­bauten, die im Europa nach der Antike zuerst aus Stein errichtet wurden. Es waren die Dome und Klöster, die zuerst Hos­pi­täler betrieben. Die Geschichte durch die Brille der Gegenwart wertend betrachten, ist eine der schlimmsten medialen Unsitten und daher abzu­lehnen. Man wirft den Pas­sa­gieren der Titanic ja auch nicht vor, sich an Bord dieses Schiffes leicht­fertig in Lebens­gefahr begeben zu haben.
Die Gnade der späten Geburt und die Mög­lichkeit, Wiki­pedia zu benutzen, bringt uns und Kunz noch lange nicht auf den Erfah­rungs­ho­rizont der Men­schen im „fins­teren Mit­tel­alter“ – das übrigens gar nicht so finster war, wie es heute dar­ge­stellt wird. Einer der Licht­blicke waren aus­ge­rechnet jene Kathe­dralen der Gotik, an denen sich Kunz in ihrem Artikel so ver­ächtlich abar­beitet. Ich für meinen Teil bin bei der Lektüre von Artikeln wie dem erwähnten in der „Welt“ stets froh, dass Leute wie Frau Kunz keinen Zugriff auf Zeit­ma­schinen haben. Sie würden zurück­reisen bis zum Augen­blick der Sin­gu­la­rität, um ihr den Urknall aus­zu­reden. Denn ab diesem Zeit­punkt ging es ja eigentlich nur noch bergab.
Doch der Klug­scheißer von heute ist ja aus der Zukunft betrachtet auch nur der Dumm­schwätzer von vor­gestern. Wenn etwa eines Tages fest­ge­stellt wird, dass der Welt­un­tergang durch Kli­ma­wandel aus­fallen musste und das Urteil über die Ener­gie­wende lautet, sie sei so „grotesk teuer“ gewesen, dass sich wegen der immensen fehl­ge­lei­teten Res­sourcen das ener­ge­tische Mit­tel­alter um Jahr­hun­derte ver­längert hatte. Ob die ver­fal­lenen Wind­parks dann aber so schön anzu­sehen sein werden, wie Notre-Dame und andere gotische Kathe­dralen, wage ich zu bezweifeln.